Logopädische Erscheinungsbilder und Diagnosen bei Kindern

Für den Bereich der kindlichen Sprachstörungen möchte ich Ihnen zunächst einmal eine kurze Einführung in die normale Sprachentwicklung geben: Direkt zu den Diagnosen

Die normale Sprachentwicklung bei Kindern

0 - 1 Jahr:
Das Kind beginnt zu lallen, d.h., es bildet Laute und Silben. Zunächst nur einfach so, später, ab ca. 6 Monaten, ahmt es damit seine Bezugspersonen nach. Viele Kinder sprechen mit 12 Monaten bereits erste Worte, z.B. „Mama“, „Papa“, „da“, „heiß“ oder andere. Das Kind hat jetzt auch schon ein erstes Verständnis für Sprache und orientiert sich nicht nur an der Situation, Mimik und Gestik seiner Bezugspersonen.

1 - 2 Jahre:
In dieser Zeit beginnt eine Phase, in der das Kind in kurzer Zeit sehr viele Wörter lernt. Das wird dann Wortschatzexplosion oder auch Wortschatzspurt genannt. Er beginnt, wenn das Kind etwa 50 Wörter erworben hat. In die Zeit des Wortschatzspurts fällt auch der Beginn der Satzbildung. Zuerst sind es nur 2-3 Wort-Sätze; es geht dann aber sehr schnell zu immer mehr Wörtern pro Satz über.

2 - 3 Jahre:
Einige Kinder holen mit ca. 2 - 2 ½ Jahren den Wortschatzspurt nach, ansonsten geht es jetzt mit der Verbesserung der Aussprache und des Satzbaus schnell voran. Außerdem erweitert sich auch der Wortschatz noch sehr stark. Das Sprachverstehen wird ebenfalls immer genauer. Mit etwa 3 Jahren sprechen schon viele Kinder völlig unauffällig. Sie dürfen aber noch Aussprachefehler machen. Wichtig: Mit 3 Jahren sollte ein Kind verständlich sprechen können.

3 - 4 Jahre:
In allen Bereichen differenziert sich die Sprache immer stärker aus, die Aussprache weist mit ca. 4 Jahren nur noch geringe Abweichungen auf, z.B. werden jetzt noch oft „sch“ und „ch“ (wie in „ich“) durch ein „s“ ersetzt, und viele Kinder lispeln noch. Der Satzbau wird komplexer und die Kinder können immer besser von Erlebnissen in ihrem Alltag berichten. Sie setzen dabei noch voraus, dass der Andere das gleiche Vorwissen hat, wie sie selbst.

4 - 5 Jahre:
Die letzten Aussprachefehler werden spätestens jetzt überwunden (eine Ausnahme ist das Lispeln, welches noch gesondert betrachtet wird).

 

Sprachstörungen bei Kindern


Sprachentwicklungsstörung oder Sprachentwicklungsverzögerung

Die „innere“ Sprache ist nicht so weit entwickelt, wie sie es in dem Alter sein sollte. Das kann die Bereiche Aussprache, Grammatik (Satzbildung), Wortschatz und Sprachverstehen betreffen. Auch die Fähigkeit, nachvollziehbar von Erlebnissen zu berichten gehört dazu.

Anzeichen:

  • das Kind hat mit 2 ½ Jahren noch nicht den Wortschatzspurt erreicht.
  • das Kind spricht mit 3 Jahren nicht verständlich.
  • das Kind bildet mit 3 ½ - 4 Jahren noch keine richtigen Sätze
  • das Kind kann mit 4 Jahren einige Laute (Buchstaben) noch nicht korrekt aussprechen
    (außer „SCH“ und „S“), oder:
  • das Kind benutzt mit 4 Jahren noch keine Mehrzahlformen, keine Artikel (sie dürfen noch falsch gebildet werden) und/oder keine oder falsche Präpositionen (auf, unter, neben, an usw., gern benutztes Ersatzwort: „bei“). Auch wenn der Akkusativ nicht gebildet wird, ist das ein Anzeichen.
    Der Dativ stellt eine Besonderheit dar, da seine korrekte Bildung nach Expertenmeinung erst ab dem Schulalter beherrscht werden sollte.
  • das Kind hat einen ungenügenden Wortschatz. Das ist auch oft für Fachleute ohne Test bestenfalls zu erahnen. Möchte man Gewissheit, kommt man um einen Test nicht herum.
  • das Kind kann mit ca. 4 Jahren Erlebnisse nicht so erzählen, dass jemand, der das Kind gut kennt, alle wichtigen Informationen bekommt.

Treffen ein oder mehrere dieser Anzeichen zu, spricht man von einer SES (Sprachentwicklungsstörung) oder SEV (Sprachentwicklungsverzögerung). Liegt nur eine „einfache“ Aussprachestörung vor, (dazu zählt ebenfalls der Sigmatismus (Lispeln), wird dies nicht als Sprachentwicklungsstörung betrachtet, sondern als Aussprachestörung bezeichnet. (veraltet: Dyslalie)

Aussprachestörung
alle Arten von falsch gebildeten oder gar nicht gebildeten Lauten (Buchstaben)

Dyslalie
das Kind spricht einen oder mehrere Laute (Buchstaben) falsch oder gar nicht (dieser Begriff ist heute unüblich geworden).

Konsonantenverbindungsschwäche
damit wird die Schwierigkeit bezeichnet, zusammengehörende Konsonanten, wie z.B. „Kr“ (in „Kran“) oder „Bl“ (wie „Blume“) zu sprechen. Auch dieser Begriff wird heute in Fachkreisen nicht mehr benutzt, da dieses Problem zu den Phonologischen Störungen gezählt wird.

Phonologische Störung
man spricht von einer phonologischen Störung, wenn Probleme beim Sprechen von Lauten von der Verarbeitung der Lautstrukturen und der Anwendung der Laute in Wörtern herrühren. Das bedeutet, dass nicht motorische Schwierigkeiten (die mangelnde Geschicklichkeit der Bewegung) die Ursache für eine Aussprachestörung sind, sondern die Verarbeitung im Gehirn. Die weitaus meisten Aussprachefehler im Kindesalter gehen auf eine phonologische Störung zurück.

Sigmatismus
das Kind lispelt. Allgemein wird davon ausgegangen, dass beim Lispeln die Geschicklichkeit der Zunge für die korrekte Aussprache des „S“ nicht ausreicht. Zu denken gibt in diesem Zusammenhang, dass es im Englischen kaum Lispeln gibt. Woran liegt das? Im Englischen sind das gelispelte „S“ (das sog. TH“) und das scharfe „S“ ein bedeutungsunterscheidendes Merkmal. „To think“ ist eben nicht dasselbe wie „to sink“ („denken“ ist nicht dasselbe wie „sinken“). Wir können in unserer Arbeit auch immer wieder beobachten, dass es Menschen, Kinder wie Eltern gibt, die ein normal gesprochenes „S“ von einem gelispelten „S“ nicht unterscheiden können. Trotzdem gibt es auch den Aspekt der motorischen Ausführung.

Dysgrammatismus
das Kind baut Sätze falsch oder macht andere grammatische Fehler, z. B.

  • es setzt das Verb an das Satzende („Ich mit Autos spiel“),
  • es flektiert nicht die Verben („Mama sagen“ statt „Mama sagt“),
  • es benutzt keine Mehrzahlformen,
  • es benutzt keine Artikel (sie dürfen noch falsch gebildet werden)
  • es benutzt keine oder falsche Präpositionen (auf, unter, neben, an usw., ein häufig verwendetes Ersatzwort ist „bei“),
  • es verwendet keinen Akkusativ („Ich will der Trecker“).
  • Der Dativ stellt eine Besonderheit dar, da seine korrekte Bildung nach Expertenmeinung erst ab dem Schulalter beherrscht werden sollte.


Stottern bei Kindern
Es ist eine Unflüssigkeit beim Sprechen, die dadurch entsteht, dass das Kind Silben oder auch ganze Wörter mehrfach wiederholt, ohne dies verhindern zu können. Oder dass das Kind „hängen bleibt“ und das entsprechende Wort gar nicht erst herauskommt. Es gibt immer noch viele Menschen, die als Ursache für das Stottern psychische Probleme annehmen. Das hat die Forschung mittlerweile widerlegt. Man weiß heute, dass bestimmte Hirnstrukturen verändert sind. Durch Therapie kann das Hirn des Betroffenen lernen, andere, intakte Strukturen zu nutzen. Allerdings kommt es durch das Stottern meist zu Unsicherheiten und anderen psychischen Symptomen. Das Stottern ist also die Ursache der psychischen Beeinträchtigung, nicht umgekehrt. Unklar ist noch, warum es viele Kinder gibt, die eine Zeitlang stottern und dann wieder damit aufhören. Ob bei diesen Kindern auch veränderte Hirnstrukturen vorliegen, oder andere Gründe für das vorübergehende Stottern vorliegen, wird derzeit noch erforscht. Es gibt zum Stottern noch reichlich Theorien über die genaue Entstehung und welche Faktoren das Stottern aufrechterhalten. An dieser Stelle finden ich es wichtiger, Sie darüber zu informieren, dass keine psychische Störung oder elterliches Fehlverhalten die Ursache des Stotterns ist.

Was kann ich tun, um einem stotternden Kind zu helfen?
Einige Punkte sind dabei besonders wichtig:

  • Geben Sie dem Kind Zeit und lassen es selbst aussprechen. Sagen Sie das gestotterte Wort an seiner Stelle, kann es nicht lernen, schwierige Situationen selbst zu meistern. Und Sie zeigen ihm damit, dass es in Ordnung ist, so wie es ist, mit Stottern.
  • Für Viele mittlerweile selbstverständlich: Schimpfen Sie nicht! Das Kind würde nicht stottern, wenn es die Wahl hätte.
  • Vermeiden Sie nicht krampfhaft das Thema Stottern. Das Kind ist sich seines Stotterns bewusst. Daher ist es sinnvoll, wenn es zur Situation passt, über das Stottern mit dem Kind zu sprechen, etwa: „Das ist jetzt ganz schön doof, dass das Sprechen gerade nicht geklappt hat.“ Oder: „Lass dir Zeit, wir kriegen schon heraus, was du sagen möchtest.“
  • Wenn Sie sich nicht sicher sind, was Sie tun sollen, lassen Sie sich beraten.


Stimmstörungen bei Kindern
Auch bei Kindern kommt es immer wieder vor, dass die Stimme heiser klingt, ohne dass das Kind erkältet ist. Zieht sich dieser Zustand über einen längeren Zeitraum hin, sollte der HNO-Arzt aufgesucht werden. Er untersucht das Kind und stellt fest, ob organische Ursachen vorliegen, die medizinisch behandelt werden müssen. Oft ist jedoch eine logopädische Behandlung das Mittel der Wahl. Haben sich auf den Stimmlippen bereits Knötchen gebildet, kann die Therapie länger dauern. Ursache für eine Stimmstörung ist in der Regel, dass das muskuläre Zusammenspiel nicht ausreichend gut funktioniert. Meist arbeiten die Muskeln im Kehlkopfbereich mit zu viel Spannung. Zwar können auch psychische Probleme die Ursache sein, das habe ich bis jetzt in meiner Praxis aber noch nicht beobachten können.

 

Schluckstörungen/myofunktionelle Störungen bei Kindern
Hier differenzieren wir zwischen Schluckstörungen bei stark beeinträchtigten Kindern, Fütterstörungen und myofunktionellen Störungen.

Echte Schluckstörungen sind bei Kindern selten und treten meist in Zusammenhang mit einer Behinderung auf. Die Kinder haben Schwierigkeiten, die Mund- und Zungenmuskulatur so zu steuern, dass die Nahrung gekaut und bis zum Rachen transportiert wird, wo der Schluckakt reflektorisch wird. Auch dieser reflektorische Teil des Schluckens kann gestört sein, das ist jedoch selten und bei Kindern noch seltener. Diese Schluckstörungen bedürfen einer interdisziplinär abgestimmten, sorgfältigen Therapie und Beratung.

Fütterstörungen zeigen sich dadurch, dass das Kind nicht ausreichend und nicht angemessene Nahrung zu sich nimmt. Die Ursachen hierfür sind vielfältig und gehen auch in den psychologischen Bereich hinein. Hier ist ebenfalls eine individuelle Beratung und ein interdisziplinäres Vorgehen mit Ärzten und Therapeuten erforderlich.

Myofunktionelle Störungen werden in der Regel durch Zahnfehlstellungen sichtbar. Wenn die Zunge beim Schlucken gegen einen Teil der Zähne drückt, werden diese Zähne verschoben. Man würde der Zunge eine solche Kraft kaum zutrauen. Wenn man aber bedenkt, dass wir mindestens 1x pro Minute schlucken und die Zunge dabei mit einer Kraft von zum Teil 2-3 Kilo gegen die Zähne drückt, so wird klar, dass die Zunge dauerhaft die Zähne verschieben kann. Zum Glück ist nicht jede Zahnfehlstellung auf den ungünstigen Gebrauch der Zunge zurückzuführen. Beim Milchgebiss kann die Zunge, wenn sie ständig zwischen den Zähnen liegt, das Wachstum der Zähne behindern, so dass der bekannte, lutschoffene Biss entsteht.